“Super Fischläden” oder: Wie ein Philosoph unseren Landkreis sieht

Der in Starnberg lebende Soziologe Jürgen Habermas ist einer der letzten großen deutschen Philosophen. Gerne trifft er sich mit seinem Freund, dem Verleger Michael Krüger auch in Berg im “Oskar Maria Graf Stüberl”. Gestern hat er in München die größte von der Stadt zu vergebende kulturelle Auszeichnung, den “Kulturellen Ehrenpreis der Stadt München” verleihen bekommen. Statt mit der erwarteten philosophischen Dankesrede verblüffte der 84-jährige Wahl-Starnberger mit einer Liebeserklärung an unseren Landkreis. Weil Habermas ein wirklich großer Geist ist, gilt vieles von dem, was er über Starnberg sagte, auch für unsere Gemeinde, weshalb wir hier Auszüge aus seiner Rede veröffentlichen … denn “super” Fischhändler haben wir sogar mehr als Starnberg.


Philosoph im Fischladen: Jürgen Habermas, der letzte große deutsche Philosoph (Photo: Wolfram Huke)

“Ich kann sagen, wie sich diese viel besungene und immer noch leuchtende Metropole des Südens aus einer nahen Entfernung anfühlt. Wir wohnen seit vier Jahrzehnten in Starnberg, einer Stadt, die aus einem Fischerdorf erst vor hundert Jahren zur Stadt herangereift ist, nachdem dort die venezianische Konstruktion des schönen Bahnhofsgebäudes gebaut, also der Eisenbahnanschluss an die Residenzstadt des bayerischen Königs hergestellt worden war. (…) Zuhause bin ich in Starnberg, wo ich inzwischen zu meinem Erstaunen länger lebe als an jedem anderen Ort. Und damit komme ich zu München.

Denn Starnberg ist kein in sich ruhendes Universum wie beispielsweise Weilheim. Es ist auf Ergänzung angewiesen. Man kann in Starnberg nicht leben, ohne nach Süden den Blick über den See auf die vom Föhn zum Greifen nahegerückte Alpenkette zu richten und nicht ohne einem Sog zum Wandern nachzugeben, denn die Stadt öffnet sich bereitwillig zu der von Bicheln und Zwiebeltürmen geprägten Landschaft des Pfaffenwinkels bis nach Murnau, Eschenlohe, Kochel und Tölz.

Aber ebenso wenig kann man in Starnberg leben ohne den S-Bahnkontakt mit der großen Stadt im Norden. Autark ist das wohlhabende Starnberg natürlich im Hinblick auf seine Infrastruktur – von den Schulen und Apotheken bis zu den Banken, vom Krankenhaus bis zum Wochenmarkt. Es gibt sogar ein Äquivalent zu Dallmayr oder Käfer, und der Fischladen ist ohnehin super. Doch München muss für alles da sein, was sonst noch fehlt. Diese Zweiteilung ist charakteristisch für die eigenartige Beziehung, die sich zu diesem Zentrum aus naher Entfernung einstellt.

München ist die Stadt, in der ich übernachtet, aber nie gelebt und nie gearbeitet habe, die ich gleichwohl wie ein Lebensmittel brauche, in kurzen Abständen immer wieder aufsuche, wenn auch nicht einfach so, sondern stets gezielt zu bestimmten Anlässen. (…) Indem ich mein Verhältnis zu München so skizziere, geht es mir um eine bestimmte Phänomenologie der nahen Entfernung. Das merkwürdige Oszillieren zwischen dem Vertrauten und dem Gutbekannten, das nach all den Jahrzehnten natürlich gar nichts mehr von einer bloß touristischen Bekanntschaft an sich hat, verschwindet nicht. Es bleibt eine Differenz. Mit einer eingelebten urbanen Umgebung und dem eingewöhnten und eingewohnten Stadtquartier vertraut zu sein, also in einer Welt zu leben, ist das eine; etwas anderes ist die selektive Vertrautheit mit den kulturellen Adern eines reich gestalteten städtischen Organismus.

Vielleicht erschließt sich der kulturelle Reichtum Münchens, wegen des gewissen ostentativen Charakters seiner höfischen Herkunft, aus der nahen Distanz sogar deutlicher und zeigt sich profilierter als von innerhalb seiner Mauern.

Wie dem auch sei, der dankbare Nutznießer aus Starnberg empfindet die Verleihung des Kulturellen Ehrenpreises als einen Akt der umarmenden, aber die verbleibende Distanz großzügig tolerierenden Eingemeindung.”