Oskar Maria Graf am Monte Verità

In unserer kleinen Serie “Die QUH im Urlaub” heute Grüße aus der örtlichen und zeitlichen Ferne … von Oskar Maria Graf. “Nie im Leben war ich so weit gereist“, bekennt er in seinem Hauptwerk “Wir sind Gefangene” über die erste große Reise. Im Frühjahr 1913 besuchte unser örtlicher Kofferheiliger als 19-jähriger mit seinem Freund, dem Maler Georg Schrimpf, den legendären Monte Verità bei Ascona … damals nach der Jahrhundertwende eine Art permanentes Woodstock.


Wo bitte geht’s hier zur Wahrheit?

Auf dem “Berg der Wahrheit” lebten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sozialreformer, Aussteiger, Nudisten, Anarchisten, Ausdruckstänzerinnen, bekehrte Bankiers und ausgemergelte Vegetarier in einer offenen Kommune. Sie bildeten eine eigenartige Gemeinschaft, die als Vorläufer der Hippies und Keimzelle der Moderne gilt. Von den Aussteigern und ihrem Hügel hoch über dem Lago Maggiore gingen für die Kunst des 20. Jahrhunderts ungeahnte Impulse aus. Angefangen vom Anarchisten Erich Mühsam und dem jungen Lenin, über die Dadaisten (Hans Arp, Hugo Ball), die Philosophen Ernst Bloch und Max Weber, bis hin zu Paul Klee, den Nobelpreisträger Gerhard Hauptmann oder Hermann Hesse (sogar Heinz Rühmann soll einmal vorbeigeschaut haben) … wer sich Anfang des Jahrhunderts zur Avantgarde zählte, stattete dem Monte Verità eine Stippvisite ab. So auch der damals völlig mittellose Jung-Bohemien Oskar Maria Graf.


Freie Liebe für freie Körper: auf dem Monte Verità vor über hundert Jahren

Für den jungen Graf, der von seinem Bruder aus der Berger Bäckerei geprügelt worden war, wird es eine Begegnung mit der real existierenden Utopie: “Es waren alle möglichen Menschensorten da, Revolutionäre, Vegetarier, und Maler aus allen Himmelsrichtungen, Freiluftkuranhänger und endlich Literaten und Naturmenschen mit langen Haaren und nur mit einem Hemd aus grobem Sackleinen bekleidet. Die Vollblutpflanzenfresser hatten auf Verità eine große Siedlung genannt ‘Die Heidelbeere’. Dort wurde Nacktkultur verkündet, neues Menschentum und freie Liebe betrieben. An allen Bäumen klebten Propagandazettel in Versform, die zum Eintritt aufforderten, aber wehe, wer nach Seife roch, solche mitbrachte oder gar rauchte …” (‘Wir sind Gefangene!’, Kap. X)


Der Monte Verità, wo Graf die Sozialisten studierte und Kropotkin traf

Einige Male trifft Graf im Bus sogar den hochverehrten russischen Anarchisten Fürst Kropotkin. Er liest sozialistische Klassiker (“Ich lernte viel dabei. Es ging mir langsam auf, daß man zu den Massen gehen müßte. Oft im Lesen entwarf ich gigantische Pläne …” und weil er auf dem Postamt randaliert, weil von daheim kein Geld für ihn kommt, wird er einmal sogar verhaftet “Herr Graf, die Deutschen sind alle so im Ausland, als müßte alles nach ihnen gehen” … Das ist ein großer Fehler.“, ermahnt ihn das “Postfräulein”. Man diskutiert in der Gruppe, ob man nach Brasilien auswandern soll, um eine utopistische Gesellschaft zu gründen. Graf ist heimatverbunden dagegen: “Was geht einen Revolutionär Brasilien und der Urwald an.

Letztendlich ist das ganze asketische Leben für den Bayern Oskar Maria Graf, der ohne jedes Geld am Monte Veritá eher dahinvegetiert als das Leben genießt, nicht auszuhalten: “Wir fahren zurück in unseren Sumpf, diese ganze Naturtrottelei kann mir gestohlen bleiben!“, ruft er schließlich aus “Das ist was für Verdauungsphilister und Grasfresser! … Das ist kein Leben!

Nach einem finalen Besäufnis (“Nach einem wüsten Trinken … zogen wir nachts vor das Haus … des Verdauungsphilosophen, und sangen grölend Sauflieder.“, verlassen Schrimpf und Graf sichtlich verwahrlost die Künstlerkolonie.


Heute am Monte Verità: ein Tagungshotel und der gänzlich unvegetarische Kiosk Parsifal

Verschlampt, mit langen Haaren, wie ein Wilder kam ich daher. Die zivilisierte Umgebung war mir halbwegs fremd geworden. Herrlich war der Tag. Groß und weit spannte sich der klare Himmel über den Starnberger See. So vertraut und so nahe war mir alles, als wär ich nie weg gewesen. In Leoni stieg ich aus dem Dampfschiff und ging den Berg hinan. Von weitem sah ich zwei sonntäglich gekleidete Jungfern und einen adretten Herrn daherkommen. … Ich kam näher und näher und auf einmal schrien die drei zugleich: ‘Um Gottswilln, der Oskar! Der Oskar!’


Wieder mit ordentlicher Frisur: Oskar Maria Graf und Georg Schrimpf 1916

Kommentieren (1)

  1. QUH-Gast
    20. September 2011 um 1:41

    Oskar Maria Graf – unser Kofferheiliger Also das muss erst einmal jemand nachmachen, eine jetzige Urlaubsreise zu verknüpfen und zu vergleichen mit Schilderungen aus einer Zeit vor fast 100 Jahren unseres „Kofferheiligen“ (auf diese so originelle wie treffende „Auszeichnung“ muss man auch erst kommen!).

    Eine wirklich toll geschilderte Erlebnisreise in Auszügen aus Grafs „Wir sind Gefangene“ Kap. X und ein origineller Vergleich, was aus dem „Berg der Wahrheit“ geworden ist.
    Wieder so ein Highlight im QUH-Blog!! Das ermuntert zum Nachlesen und Auffrischen von fast Vergessenem.
    Dank an den Autor.