Wohin?

Afghanistan steht unter Schock. Die Taliban haben die Macht übernommen. Verzweifelte Menschen sind auf der Flucht. Die USA und Deutschland fliegen täglich Evakuierungseinsätze. Angst und Entsetzen herrschen – auch bei Menschen, denen die Flucht aus dem Land längst gelungen ist, die aber noch Freunde und Verwandte dort haben.

Wir befragten jemanden aus Afghanistan, der mit seiner Familie hier bei uns lebt. Die Person möchte anonym bleiben.

Die afghanische Flagge – in der zweiten Heimat Deutschland

QUH: N.N.,  du lebst mit deiner Familie seit über fünf Jahren hier in Bayern – fühlt ihr euch wohl hier?
N.N.: Ja, im Vergleich zu Afghanistan fühlen wir uns hier wohler. Am Anfang hatte ich Heimweh, aber dann wurde hier meine zweite Heimat.

QUH: Wie hast du auf die Machtübernahme der Taliban in deiner Heimat reagiert?
N.N.: Ich selbst konnte es erst gar nicht glauben, dass die Taliban das ganze Land so schnell übernehmen werden. Aber als ich erfahren habe, dass sie unsere Flagge abgenommen haben, wusste ich, dass wir Afghanistan verloren haben. Das Land, in dem meine Familie und meine Freunde leben. Das Land, in dem ich groß geworden bin.

QUH: Hast du Kontakt zu Freunden und Verwandten dort? Wie geht es ihnen?
N.N.: Meiner Familie und meinen Freunden geht es bis jetzt gut. Aber sie haben große Angst und machen sich große Sorgen. Die Taliban gehen von Haus zu Haus und nehmen sich, was ihnen gefällt: Autos, Wertsachen, Waffen, das Haus selbst oder sogar die Mädchen. Ärztinnen aus unserer Familie haben ihre Praxis geschlossen und sind in die Hauptstadt Kabul gefahren, um ins Ausland zu fliehen. Doch kaum waren sie angekommen, wurden auch die Stadt Kabul und der Flughafen von Taliban eingenommen.

Vorher-nachher: Polizeiwache in Kabul, links mit der afghanischen Flagge, rechts während der Machtübernahme der Taliban und deren Flagge

QUH: Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für die Menschen im Alltag? Wer hat was zu befürchten?
N.N.: Die Taliban handeln totalitär, die Leute müssen das machen, was ihnen befohlen wird. Eine offizielle Regel bei den Taliban ist, dass Frauen und Mädchen nur mit einem männlichen Begleiter nach draußen gehen dürfen, und wenn sie ganz bedeckt sind. Ob sie in die Schule gehen und arbeiten dürfen, ist unklar. Es wird noch gesagt, dass die Taliban alle ehemaligen Politiker, Sänger, Komiker und die Leute, die für Unterhaltung gesorgt haben, töten oder festnehmen werden. Vor den Taliban fürchten sich vor allem die Frauen und die ehemaligen Politiker. Ich habe neulich in den deutschen Nachrichten gehört, dass die afghanischen Soldaten disloyal wären und sich den Taliban ergeben hätten. Aber was wirklich geschehen ist, bekommen wir von Verwandten berichtet: Die Kommandanten nahmen den Soldaten die Waffen weg und befahlen ihnen, nicht zu kämpfen. Das Traurigste an der ganzen Sache ist, dass wir unser Land so einfach und so schnell verloren haben und dass wir nichts dagegen machen konnten. Unsere Flagge, bei der jede Farbe eine besondere und schöne Bedeutung hat, wurde geändert. Diejenigen, die unsere Flagge verteidigt haben und protestiert haben, wurden umgebracht. Es ist einfach schrecklich, und ich wünschte, es wäre ein Albtraum.
QUH: Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen dir und deinen Lieben alles erdenklich Gute.