“Er hatte noch viel vor” … heißt es oft in Nachrufen, aber für wenige Menschen trifft die Floskel so zu wie für den Cellisten Sebastian Hess, der – wie erst jetzt bekannt geworden ist – am 1. September in seinem Haus in Kempfenhausen mit nur 50 Jahren plötzlich und allein an einem Hirn-Aneurysma verstorben ist.
Sebastian Hess, Cellist, 5. Mai 1971 – 1. September 2021 (Photo BR/Winfried Petzi, 1998)
Sebastian war nicht nur ein international bekannter Künstler und Interpret, sondern auch ein QUH-Mitglied der ersten Stunde. Er lebte wie wenige den QUH-Leitspruch “Global das Denken, lokal die Renken”. Auf ein Leben gerechnet heißt das, dass er zwar auf den großen Konzertbühnen der Welt unterwegs war (er debütierte als Meisterschüler von Rostropovich mit 21 Jahren beim Londoner South Bank Centre), aber er organisierte und moderierte zwischen all seinen weiten Konzertreisen auf seine launig-kundige Art zwischen 2009 und 2015 auch die unvergessenen Klassik-Abende “Marstall-Classics” (einen der vielen Berichte lesen Sie hier: https://quh-berg.de/marstallclassics-auf-glatteis-6091116/). Er blieb Zeit seines Lebens ein überzeugter Berger.
Sebastian Hess (hinten im Bild) bei einem von ihm moderierten “Marstall-Classics”-Abend im Marstall
Als die QUH gegründet wurde, ließ er es sich – obwohl er damals meist zwischen London und Seoul von Konzert zu Konzert reiste oder in München mit Zubin Mehta musizierte – 2008 nicht nehmen, bei unserer Lokalpartei auf einem Listenplatz zu kandidieren und dadurch seine engagierte Heimatverbundenheit zu demonstrieren ( https://quh-berg.de/listenplatz-19-sebastian-hess-4694900/ ).
Mit diesem Foto bewarb sich Sebastian vor 13 Jahren um ein Gemeinderats-Mandat
2008 war es schon 5 Jahre her, dass er regelmäßig als 1. Solocellist unter Zubin Mehta bei der Münchner Staatsoper spielte und komplizierte moderne Cellowerke zur Uraufführung brachte. Was wenige seiner gesetzten Klassik-Kollegen wussten: Sebastian arbeitete schon in jungen Jahren genauso gern mit den wildesten Musikern zusammen (und hielt sich dabei nur die Ohren zu, wenn es gar zu laut wurde). Auch mit dem Berger Autor Andreas Ammer oder Avantgarde-Größen wie FM Einheit verband ihn eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, die in wilden, ganz unklassischen Live-Hörspielen gipfelte, die im Berger Marstall, bei den Salzburger Festspielen oder im Münchner Cuvililestheater gastierten.
Die Komponistin Ulrike Haage, der Freejazzer Phil Minton, in der Mitte Sebastian Hess, samt Autor Andy Ammer & dem Noise-Musiker FM Einheit 1995 bei ihrem gemeinsamen preisgekrönten Werk “Apocalypse Live” im Münchner Marstall, das später zu den Salzburger Festspielen eingeladen wurde
Für “ältere” Berger unvergessen war 2003 die “Sprechoper” “Unser Oskar” über Oskar Maria Grafs Leben, die Ammer & Hess 2003 – unter der Mitwirkung von Sepp Bierbichler und der groß im Opernhaus aufspielenden Bachhauser Blasmusik – im Auftrag der Münchner Staatsoper im noblen Münchner Cuvilliestheater aufführten. Bei der letzten Aufführung zertrümmerte Sepp Bierbichler zu Sebastians Musik sogar denkmalgeschützte Barock-Stühle. Auch bei der “Besten LP des letzten Jahrzehnts”, der Indie-Pop-Platte “Neon Golden” der Weilheimer Band “The Notwist” spielte Sebastian die “unspielbaren” Cello-Parts ein. Trotz dieser Welt- und Kulturoffenheit blieb Sebastian immer tief im Klassik-Betrieb verwurzelt.
Lederhose, Cello, Dotzauer-Suiten: dieses Photo von seiner “first public performance” mit 7 Jahren postete Sebastian Hess dieses Jahr anlässlich seines 50 Geburtstags mit der Bemerkung ” I still don’t like Dotzauer very much”
Mikis Theodorakis “Rhapsodie für Violoncello und Orchester” über die 9 klassischen Musen von 2006 ist hauptsächlich in Sebastians Interpretation bekannt (Spotify-Kunden hören sie hier: https://open.spotify.com/track/2NQC6Q8hZYTPckVBd6kg7H. ). Sein Leben lang wollte Sebastian nicht nur die alte Musik, wie die von im geliebten Bach’schen Cello-Suiten und Sonaten, in Perfektion interpretieren (.https://open.spotify.com/track/5H63XfEwkdJkEQeFvRV85k ), sondern ebenso helfen, neueste Werke auf die Bühne zu bringen oder vergessene Komponisten wieder neu zu entdecken … so wie den von ihm verehrten Komponisten Platti (den er mit Axel Wolf auch im Berger Marstall vorstellte).
Das Cover einer der über 40 CDs mit Sebastian Hess, aufgenommen in dessen Kempfenhauser Haus (samt Hund Rufus)
Sebastian war dabei nicht nur ein großer Virtuose, sondern auch ein begnadeter Kulturvermittler. Wenn er den “schwierigen” Hans Werner Henze spielte, versprach er: “Der zweite Satz – Sie werden sehen – das ist beinahe Rock ‘n’ Roll! – Da werden uns die Finger rauchen!” – Wenn er neu entdeckte, alte Musik spielte, erklärte er sinnfällig: “Diese Musik war seit 270 Jahren unter Verschluss – ich fand sie in der Sammlung der Grafen von Schönborn in Würzburg – sie wurde seit 1725 nie mehr gespielt!” Besonders die Barockmusik samt historischer Aufführungspraxis war dabei Sebastians Leidenschaft. Ebenso wie die lebenslange Zusammenarbeit mit der Creme de la Creme der zeitgenössischen Komponisten … von Wolfgang Rihm und Jörg Widmann oder seinen engen Freund und Duo-Partner Moritz Eggert über Hans Werner Henze bis hin zum ebenfalls letzte Woche verstorbenen griechischen Komponisten Mikis Theodorakis. Sein umjubelter Auftritt zum Abschluss des vorletzten 5-Seen Filmfestivals zu Ehren dieses Komponisten vor fast genau einem Jahr ( https://www.sueddeutsche.de/muenchen/starnberg/musik-magie-der-entrueckung-1.5027330) sollte sein letzter Auftritt im Landkreis werden.
Sebastian Hess bei seinem letzten Auftritt beim FSFF 2020 (Photo: Pavel Broz)
Viele weitere Auftritte waren geplant: Seit letzten Jahr bemühte sich Sebastian wieder verstärkt, der lokalen Kultur zu dringend benötigten Höhenflügen zu verhelfen. Zusammen mit der Starnberger Regisseurin Martina Veh war er der Initiator des Festivals “SeeKultur” am Starnberger See, das im nächsten Jahr zum ersten Mal stattfinden sollte. Die Förderanträge waren alle längst bewilligt.
Als kleine lokale Kostbarkeit präsentieren wir zum Andenken an den engagierten Welt- und Bergbürger Sebastian Hess die Zugabe seiner “Marstall-Classics” vom September 2009: Gegeben wurde das “Thema der Goldberg-Variationen” von Johann Sebastian Bach in aller der damaligen Amateur-Aufnahmetechnik geschuldeten, technischen Unzulänglichkeit und aller trotzdem zu spürenden, den Profi-Interpreten verdankten, musikalischen Perfektion.
Wir verneigen uns vor einem großen Interpreten und Kulturvermittler, und: einem echten Berger
Sebastian Hess mit Axel Wolf 2009 im Berger Marstall